Wie würden Sie Religion definieren? Vielleicht würden Sie dafür die Begriffe Ritual, Gemeinschaft und Gott verwenden. Oder etwas wie Trost? Es ist gar nicht einfach, Religion zu definieren – gerade weil wir alle zu wissen glauben, was es bedeutet. Die Frage nach der Definition von Religion ist eine Grundfrage der Religionswissenschaft und damit auch des Fachs Religionslehre an der Kantonsschule.

Ein Text, den ich mit den Schülerinnen und Schülern jeweils lese, ist die Einleitung zur «Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie» von Karl Marx. Sie kennen vielleicht die bekannte Passage zu Religion in jenem Text von 1844: «Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. … Sie ist das Opium des Volks.» Nach Marx konnte man also in jener Zeit der schnellen und brutalen Industrialisierung an der Religion durchaus ablesen, was Menschen erleiden mussten («Ausdruck des wirklichen Elends») und gegen was sie sich wehren wollten («Protestation»). Nur bietet die Religion als «Illusion» nach Marx aber höchstens Linderung und Ablenkung («Opium»). In den Worten einer Schülerin: «Die Religion ist wie eine rosarote Brille. Was, wenn man die rosarote Brille absetzt, wenn man kein Opium mehr nimmt, wenn man Religion abschafft? Laut Karl Marx würde man die Menschen enttäuschen.»

Interessant an der Kritik von Marx ist nach wie vor sein Ansatz, dass religiöse Ideen nicht verschwinden, weil man sie widerlegt oder mit anderen Ideen ersetzt. Sondern sie erübrigen sich, wenn man die sozialen und ökonomischen Bedingungen so verändert, dass es etwas wie Religion gar nicht mehr braucht. Ein Schüler hat es in seiner Analyse anschaulich erklärt: «Ein Anhänger einer Religion ist nicht allein schuld an seinem Leid, nur weil er in einer Illusion lebt, die ihm verspricht, dass es später besser wird. Mir fällt auf, dass Marx keinesfalls dazu auffordert, die Religionen zu zerschlagen, sondern er ist überzeugt, dass es so etwas wie Religion gar nicht geben würde, in einer Welt, in der weniger gelitten wird und somit sich nicht in einem «Zustand» befindet, «der der Illusionen bedarf» (Zitat von Marx).» Das ist doch bedenkenswert, auch aus einer theologischen, christlichen Perspektive.

Eine weitere Frage, die sich stellt, ist, was in unserer heutigen Gesellschaft jene Funktion übernommen hat, die Marx 1844 für die Religion definierte. Ein Schüler sieht in unserem Leistungsdenken die neue «Illusion» und bringt es auf den Punkt: «Auch heute geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf und man tut wenig dagegen. Man tut nichts dagegen, weil es heutzutage sehr versteckt ist, dass jemand arm ist. Es gibt Sozialhilfen, es gibt Kredite etc. Doch das ist ein Teufelskreis. So wird keine Notwendigkeit eines Systemwandels generiert. Denn heute ist nicht die Religion die Hoffnung der Menschen, welche einen das Leid ertragen lässt, sondern das ständige Mantra von Medien, Schulen etc., dass man mit viel Arbeit wohlhabend werden kann, man muss es nur wollen.» Demnach müssen wir also darüber nachdenken, wer und welche Bedingungen uns glauben machen, dass wir alles schaffen können, wenn wir es denn nur wollen. Übrigens ist das gerade kein besonders christlicher Gedanke.

Wenn Sie zur Frage der Definition von Religion und zum aktuellen Umgang mit Religion etwas lesen wollen, dann kann ich Ihnen das neue Buch von Gesine Palmer sehr empfehlen: «Vielfalt statt Konsens in den Religionen» (Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 2021).

Benjamin Ruch, Fachlehrer für Religion und Seelsorger an der Kantonsschule Baden